Sie wünschen den ZSL Newsletter!

Anmelden
Kommune Inklusiv

Kommune Inklusiv

Wie alles begann: Die Anfänge der Selbstbestimmt Leben Bewegung in Erlangen und anderswo - von Dinah Radtke

Dies ist die Abschrift eines Vortrags von Dinah Radtke, Mitbegründerin des Zentrums für selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. (ZSL), Mitbegründerin der Dachorganisation Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e.V. (ISL) und ehemalige Vizepräsidentin des Disabled Peoples International (DPI).

In meinem Vortrag möchte ich den Anfang und die Entwicklung der Behindertenbewegung, der selbstbestimmt-Leben-Bewegung in Erlangen zeigen, aber auch bundesweit und international. Ich selbst war irgendwie immer dabei in verschiedenen Funktionen. Ich möchte die gesellschaftliche Stimmung der 70er und 80er Jahre wiedergeben und das Empowerment von uns Menschen mit Behinderung, das daraus erfolgte.

Anfang
Der Auslöser für die Gründung einer Behinderteninitiative (StiB) in Erlangen war die Suche nach barrierefreiem Wohnraum von mir, Dinah Radtke. Seit 1970 studierte ich am Institut für Fremdsprachen und Auslandskunde. Ich bewohnte ein zugängliches Zimmer im Souterrain in der Kochstraße. Nach der Kündigung wegen Eigenbedarf war die Suche nach geeignetem Wohnraum sehr schwierig. Meine Suche nach geeignetem Wohnraum wurde in Kirchen verkündet, in der Zeitung veröffentlicht. Ich selber machte mich mit einer Freundin, auch im Elektrorollstuhl, auf die Suche. Wir klingelten an stufenlosen Häusern und fragten nach, ob ein barrierefreies Zimmer zu mieten sei. Die Leute waren so erschrocken zwei Frauen im Rollstuhl zu sehen, dass sie gar nicht zuhörten, sondern nur sagten: “wir geben nichts!“ und schnell die Türe zumachten. Letztendlich war der Gang zum damaligen Oberbürgermeister, Dr. Hahlweg, erfolgreich. Doch die Schwierigkeiten, die mit der Wohnungssuche verbunden waren zeigten uns, dass dringend etwas unternommen werden musste, um die Missstände zu beheben. Beispiele dafür waren barrierefreier Wohnraum, barrierefreier Zugang zu Unigebäuden, geeignete Studien- und Prüfungsbedingungen für Behinderte und barrierefreier ÖPNV. Wir beiden Freundinnen beschlossen einen Verein zu gründen, um gemeinsam gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Um weitere Interessierte zu finden, befestigte ich u.a. Zettel mit Infos an den Windschutzscheiben von Autos, von denen ich wusste, dass deren Besitzer behindert waren. 1977 wurde die StiB (Studenteninitiative Behinderte) gegründet. Nach dem Krieg gab es keine direkten Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung. In den 50er und 60er Jahren gründeten Eltern behinderter Kinder Organisationen für Menschen mit Behinderung mit speziellen Einrichtungen wie zum Beispiel Sonderschulen. Man war froh, dass diese Einrichtungen entstanden und man dachte nicht daran, dass Menschen mit Behinderung natürlich auch am Leben in der Gesellschaft teilnehmen sollten oder könnten. Menschen mit Behinderung wurden in allen Bereichen der Behindertenfürsorge als Objekte gesehen und nicht als Subjekte mit Bürgerrechten. Das Gedankengut der Nazis lebte in der Gesellschaft weiter fort. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden ca. 300 000 Menschen mit Behinderungen umgebracht. Sie wurden als unnütze Esser bezeichnet, Behinderte waren ein Kostenfaktor. Das sind sie immer noch, wie der Gesetzentwurf zum Reha- und Intensivstärkungsgesetz vom August 2019 zeigt. Behinderte waren noch in den 80er Jahren mit dem Satz konfrontiert :“Unter Hitler hätt's sowas nimmer gegeben!“

Durch die Studentenbewegung 1968 und die starke Frauenbewegung ab 1968 gab es eine bundesweite gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, es schien eine neue Zeit zu beginnen. Die Aufbruchsstimmung ermutigte Menschen mit Behinderung für sich selbst zu kämpfen und alte Strukturen abzuschaffen. Selbsthilfeorganisationen wurden gegründet, so wie auch in Erlangen mit der StiB, mit dem Ziel Barrieren auf kommunaler Ebene zu verringern. Es gab viele Vorurteile und Fragen wie die folgenden wurden heftig diskutiert: „Sollen, können, dürfen Menschen mit Behinderung heiraten?“ oder „Sollen, können, dürfen Menschen mit Behinderung selber ein Auto fahren?“ Behinderung wurde und wird oft immer noch als Defizit gesehen, als ein persönliches medizinisches und biologisches Problem. Es wurde angenommen, dass Menschen mit Behinderung immer leiden! Aber schon Mitte der 70er Jahre sagten Menschen mit Behinderung ganz klar, dass ihre Einschränkungen nicht der Grund für ihre Ausgrenzung war, sondern eine Gesellschaft, die sie wegen ihrer physischen Symptome ausgrenzte. „Die Lähmung ist nicht die Behinderung! Was uns behindert und ausschließt ist die Tatsache, dass es keine behindertengerechten Wohnungen und keinen barrierefreien Nahverkehr gibt!” (“Wegweiser Behindertenbewegung”, Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung, Swantje Köbsell, AG SPAK Bücher, 2012).

Das Frankfurter Urteil
1980 waren Menschen mit Behinderung wütend über das sogenannte Frankfurter Urteil. Das Gericht hatte einer Frau das Recht auf Entschädigung zugesprochen, weil sie während ihres Urlaubs den Anblick von behinderten Menschen ertragen musste. Dies hatte den Erholungseffekt verdorben. 5000 Menschen – die meisten davon selbst behindert – demonstrierten gegen dieses Urteil und wiesen auf die ungeheure Diskriminierung hin, die ihnen durch die Ausgrenzung zugefügt wurde und die Tatsache, dass sie sich nicht selbst vertreten konnten. Dann kam die Krüppelbewegung (ca.1978-1985) „Behinderung wurde als Unterdrückungsverhältnis durch Nichtbehinderte begriffen“. „Angestrebt war nicht die Partnerschaft von Behinderten und Nichtbehinderten, sondern die Konfrontation der Nichtbehinderten im Ausgrenzungsprozess.“ (“Wegweiser Behindertenbewegung”, Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung, Swantje Köbsell, AG SPAK Bücher, 2012).  Es galt der Spruch: „jedem Krüppel seinen Knüppel!“ Zur Eröffnung des „UNO Jahres der Behinderten“ 1981 wurde eine Selbstbelobigung der „Wohltäter“ befürchtet. Man hoffte, dass die Veranstaltung dazu genutzt würde die Selbstvertretung Behinderter zu erweitern, das trat aber nicht ein. Es wurde vor allem gefordert: keine Aussonderung, keine Menschenrechtsverletzungen! Bei einer der folgenden Veranstaltungen wurde der damalige Bundespräsident Carstens von einem „Krüppel“ leicht mit der Krücke geschlagen, um zu zeigen wie unehrlich und demütigend diese Veranstaltungen für Menschen mit Behinderung waren und dass sie nicht ernst genommen wurden. Dieser Vorfall hatte keine Konsequenzen für den „Krüppel“

Selbstvertretung und Selbstbestimmung in Politik, Gesellschaft und Kommune
Die gemeinsamen Kämpfe gegen Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen hatten das Selbstbewusstsein Behinderter gestärkt, so dass sie anfingen behinderungsübergreifende Selbstvertretungsorganisationen zu gründen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Während der 80er Jahre wurden die ersten „Zentren für selbstbestimmtes Leben“ und „Assistenzorganistionen“ in Deutschland gegründet, um ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. In Erlangen waren die ehrenamtlichen Aktivitäten der StiB sehr erfolgreich. Die Beziehungen zur Stadtverwaltung und zur Universität waren gut. So unternahmen wir zum Beispiel mit Bürgermeister und Stadträt*innen in zwei Stadtbussen eine Fahrt nach München, um Niedrigflurbusse für den ÖPNV in Erlangen anzusehen. Es war begonnen worden die Bürgersteige abzuflachen und das Markgrafentheater bekam einen Aufzug. Wir hatten demonstriert, weil wir ein Theaterstück nicht sehen konnten, in dem Behinderung eine große Rolle spielte. Auch im Bereich der Universität fanden Begehungen statt, mit dem Ziel, die Uni für behinderte Studierende zugänglicher zu machen. Die ehrenamtliche Beratung von der StiB wurde immer mehr angefordert. Vor allem unser persönliches Unterstützungsmodell mit Zivildienstleistenden war sehr nachgefragt. Das ging so: vier unserer behinderten Mitglieder teilten sich die Assistenzleistungen von sechs Zivildienstleistenden, die sie selbst verwalteten, einschließlich deren Krankheits- und Urlaubszeiten. Da einige von uns gerade mit der Berufsausbildung fertig waren, beschlossen wir, Beratungs- und Assistenzleistungen professionell anzubieten und ein Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Erlangen zu gründen. Die Idee stieß bei den verschiedenen politischen Ebenen auf positive Resonanz, war aber sehr schwer umzusetzen. Der maßgebliche Ideengeber bei der Gründung und Verwirklichung des ZSL war Wolfgang Uhl, Jurist und eine der zentralen Personen in der StiB. Doch den entscheidenden Schritt mit einer ersten Finanzierungszusage machte die damalige Bürgermeisterin der Stadt Erlangen, Frau Rechtenbacher, wofür wir ihr noch heute dankbar sind. Dann folgten Bezirk und das bayerische Sozialministerium und die Arbeit im ZSL konnte 1989 beginnen. Die Zentren für Selbstbestimmtes Leben Behinderter sind eingetragene Vereine. Nur die behinderten Mitglieder der ZSLs dürfen abstimmen und vor allem die Angestellten der Beratung und der wichtigsten Funktionen müssen selbst behindert sein. Manche der Zentren bieten einen Assistenzdienst an und organisieren für behinderte Kund*innen persönliche Assistenz. In den Zentren wird umfangreiche Beratung zu allen Lebensbereichen angeboten. Bei der Beratung wird die sogenannte Peer Counseling Methode angewendet, d.h. die Beratung wird von selbst behinderten Expert*innen geleistet. Seit ca. 30 Jahren haben die „Zentren für selbstbestimmtes Leben“ und die dazugehörigen Assistenzdienste Menschen mit Behinderung dabei unterstützt ein selbstbestimmtes Leben zu führen. So auch das Erlanger ZSL.

 Dachverband ISL
1991 wurde dann der Dachverband der Zentren, die „Interessenvertretung selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.“, in Erlangen gegründet. Die ISL spielt eine maßgebliche Rolle in der Behindertenpolitik und kämpft für die Umsetzung unserer Menschenrechte und hat z.B. den deutschen Behindertenrat mitbegründet. Im Moment zählt die ISL ca. 27 Mitgliedsorganisationen. (http://www.isl-ev.de/)

Großer Erfolg
1994 erreichte die Selbstbestimmt Leben Bewegung in einer Allianz mit anderen Verbänden einen großen Erfolg mit dem Zusatz zum Grundgesetz in Artikel 3, Absatz 3 „... niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ .Damit konnte und kann man vor Gericht gehen!

Internationale Ebene und die Geschichte der Behindertenrechtskonvention (BRK)
Weltweit kämpften behinderte Menschen für ihre Rechte. Sie waren wütend darüber, dass es kein bindendes Menschenrechtsinstrument für Menschen mit Behinderung gab. Es gab zwar die UN Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit behinderter Menschen von 1993, aber die waren nicht bindend. Im Jahr 2000 appellierten fünf internationale Behindertenorganisationen an alle Regierungen, eine Konvention zu unterstützen. 2001 begannen die Verhandlungen für ein „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ Die Verhandlungen erfolgten unter dem Motto „Nichts über uns ohne uns“. Behindertenrechtsorganisationen nahmen aktiv an den Verhandlungen teil. Ich hatte als Vertreterin von „Disabled Peoples International“ den Vorsitz des internationalen Zusammenschlusses behinderter Frauen. Die BRK ist die erste Konvention, die mit einem so großen Anteil der Zivilbevölkerung geschaffen wurde. Wir Frauen und Männer waren voller Enthusiasmus. Die Regierungsdelegationen erkannten uns als Expert*innen an und wollten von uns lernen. Doch es war harte Arbeit. Wir mussten mit einer Stimme sprechen und mussten uns untereinander immer wieder unter Kämpfen abstimmen. Täglich erarbeiteten wir schriftliche Vorschläge für die verschiedenen Artikel der Konvention. Die BRK ist die erste universelle Konvention, in der die Menschenrechte, so wie sie in der Internationalen Menschenrechtserklärung aufgelistet sind, an die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen angepasst sind. Ziel des Übereinkommens ist es, den gleichberechtigten Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten.
Die Grundsätze dieses Übereinkommens sind:
a) die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Selbstbestimmung
b) die Nichtdiskriminierung
c) die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft
d) die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit
e) die Chancengleichheit
f) die Barrierefreiheit
g) die Gleichberechtigung von Mann und Frau
h) die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.

In der BRK erfolgt ein Paradigmenwechsel vom medizinischen Modell zum sozialen bzw. dem Menschenrechtsmodell von Behinderung durch eine neue Definition von Behinderung: In der Präambel steht, dass „das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleich berechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“. In Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention den Status eines Bundesrechts. Die BRK trat im März 2009 in Kraft. Die BRK ist ein wirklich sehr starkes Rechtsinstrument im Kampf um gleiche Rechte. Sie hat großen Enthusiasmus und Euphorie ausgelöst, wir dachten, dass wir damit die Welt verändern könnten. Inzwischen gibt es auch viel Enttäuschung bei der Umsetzung. Doch es ist auch viel Positives geschehen. Behinderung wird jetzt in Teilen der Gesellschaft anders wahrgenommen als noch vor einiger Zeit und davon profitiert die Gesellschaft als Ganzes. Selbst, wenn wir wachsam bleiben müssen!

Wir verwenden Cookies für Analysen und Services (Karten). Damit verbessern wir die Nutzerfreundlichkeit unserer Website laufend und bieten Ihnen bestmöglichen Service. Weitere Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen. Selbstverständlich können Sie die Verwendung von Cookies ablehnen.
Cookies akzeptieren:
OK